Berlin Alexanderplatz (2020) - geschrieben von Iris Neuberg
Regie: Burhan Qurbani
IMDb 6,8/10
*** so gut wie spoilerfrei ***
„You want to be good in a world that is böse.” Damit wäre der Plot
des Films „Berlin Alexanderplatz“ in einem Zitat zusammengefasst. Ein Mann, der versucht, gut zu sein, während er vom Bösen umzingelt ist. Über die Dauer von drei Stunden beobachten wir einen zwiespältigen Protagonisten dabei, eine falsche Abzweigung nach der anderen zu wählen. Aber lasst uns am Anfang beginnen, ganz am Anfang. Das heißt, im Jahr 1929, in der Weimarer Republik.
1929 veröffentlicht der Schriftsteller Alfred Döblin seinen Roman „Berlin Alexanderplatz“. In der Geschichte wird der Straftäter Franz Bieberkopf nach langer Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen. Er schwört sich gut zu sein, keine Straftaten mehr. Die Stadt Berlin ist aber nicht mehr, wie er sie kannte. Es fällt ihm schwer zurecht zu kommen, so fällt er direkt in die Arme von Reinhold, einer merkwürdigen Gestalt, in der er aber keine Gefahr sieht. Von Reinhold geht jedoch eine enorme Gefahr aus. Während Franz also verspricht gut zu sein, will Reinhold, dass er böse ist und zieht ihn immer tiefer in seine Welt.
Mittlerweile wurde das Buch mehrere Male in Filmen, Serien, Theateraufführungen und Hörbüchern adaptiert. Im Jahr 2020 veröffentlichte Regisseur und Drehbuchautor Burhan Qurbani seine Verfilmung. Da aber mittlerweile fast 100 Jahre vergangen sind, ist Franz, der Sträfling jetzt Francis, der Flüchtling. Nachdem sein Bot bei der Überfahrt nach Europa sinkt und er es durch Glück einerseits und Kaltblütigkeit andererseits doch lebendig an Land schafft, schwört er eins: „Vater, allmächtiger Gott, ich schwöre dir, von nun an will ich gut sein. Ich will ein neuer, ein anständiger Mensch werden.“ (00:03:46)
Ein Versprechen, das er im Laufe des Films brechen wird. Denn Francis war kein Unschuldiger. Er war Dieb, Zuhälter, Schmuggler… Mörder. Er wird lernen, wie schmal der Grat zwischen Gut und Böse tatsächlich ist.
LIEBE
Es mag widersprüchlich klingen, doch Liebe ist einer der Gründe, die Francis das Gutsein erschweren, denn Liebe kann viele Gesichter haben und nicht alle sind schön.
Auch Francis (Welket Bungué) trifft auf Reinhold (Albrecht Schuch), der die Männer im Asylheim zum Drogendealen überredet. Francis weigert sich, schließlich will er gut sein und Drogen sind böse. Aber gutsein ist um so vieles anstrengender und es ist undankbar. So fällt er wie zu erwarten doch in Reinholds Arme. Es entwickelt sich eine perfide Beziehung, die von Abhängigkeit und Ausbeutung geprägt ist.
Reinhold ist ein kaputter Mann. Körperlich, wie seelisch. Um sich ganz zu fühlen, muss er andere Menschen kaputt machen und unter sich stellen. Dafür nimmt er Francis seine Selbstständigkeit. Weil er es sagt, wird Francis zu Franz. Er tauft ihn um und macht ihn damit zu Seinem.
Doch da ist auch Mieze (Jella Haase), die Frau, die Francis liebt. Sie ist Reinholds größte Konkurrenz, denn Reinhold ist verliebt in Francis. Seine Liebe ist nicht rein oder gütig oder bedingungslos. Sie verlangt alles von ihm. Wieder und wieder gibt Francis ein Stück von sich an Reinhold und damit an das Böse, denn irgendwie liebt Francis auch Reinhold. Er vertraut ihm blind, obwohl er zahllose Gründe hat, es nicht zu tun. Doch Reinhold hatte ihn aus dem Asylheim geholt. Er hatte ihm ein zuhause gegeben. Er spricht zu ihm in einer Form, die sich wie Respekt und Fürsorge anfühlt, daher ignoriert er alle, die ihm sagen, dass er sich vor Reinhold zu hüten hätte. Die Liebe macht ihn blind. Seine emotionale Abhängigkeit ist nicht zu verkennen. Sie ist so stark, dass selbst die wahre Liebe, die reine Liebe zu Mieze nur schwer Platz findet.
Mieze ist die Sexarbeiterin, die sich nach einem Unfall um Francis kümmert. Es kommt, wie es kommen muss und sie verlieben sich ineinander. Für Francis verändert sie alles. Wenn jedes Stück von sich, das er an Reinhold gibt, böse wird, so werden alle, die er an Mieze gibt, gut. Gutsein bedeutet bei ihr sein.
„Aber in dir sind zwei. Den einen, den ich so sehr liebe. Und einer der alles kaputt macht. Der liebt mich nicht. Der liebt den Tod.“ (Mieze, 2:31:17)
Francis müsste sich nur für die Liebe zu Mieze entscheiden und er wäre gut. Aber seine Liebe ist geteilt und es dauert, bis er begreift, dass er nicht beide lieben kann.
RASSISMUS
Anders als im Buch ist Francis kein entlassener Sträfling, sondern ein Geflüchteter aus Guinea-Bissau, der in seiner Vergangenheit kein guter Mensch war. Wie zu erwarten, ist die Geschichte des Films in Rassismus getränkt. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Art.
Zunächst ist da der offensichtliche Rassismus. Weiße Drogenchefs, die Schwarze Asylwerber mit wenig Perspektive anheuern, indem sie ihnen eben diese in Aussicht stellen. Es fallen die üblichen Beleidigungen und abwertenden Behandlungen. Pums (Joachim Król) ist der Boss der Drogenbande. Ein älterer Mann, der vom Stil her genauso eine hohe Stelle im Kul-turbereich oder in einer Bank einnehmen könnte. Aber er ist Drogenbaron. Man sieht es ihm nicht an, aber den Leuten, die für ihn dealen, den Schwarzen Leuten, ihnen sieht man es an. Für ihn hat keiner der Geflüchteten einen Wert, außer Francis, denn Francis hat sich bewiesen. Er zeigte Intelligenz, Mut und Schlagfertigkeit. Er ist der Schwarze Mann, der sich seinen Wert erst verdienen musste und selbst, dann blieb er noch meilenweit unter dem Wert des weißen Mannes. Offensichtlich.
Aber es gibt noch eine andere Form des Rassismus. Eine, die mit Reinholds Liebe einhergeht, denn Reinhold kann nicht lieben ohne zu beherrschen und sich überlegen zu fühlen. Er nutzt Rassismus, um an diese Überlegenheit zu kommen. Sein Rassismus ist nicht laut und direkt, er ist nur ein Werkzeug, mit dem er sich diese Liebe sichert. Woher die Männer im Asylheim kommen ist ihm egal, aber er kann den Rassismus nutzen, um ihnen übergeordnet zu bleiben. Dies wird nur subtil angedeutet, bis zur Szene der Kostümparty.
Reinhold besorgt Verkleidungen für alle. Er geht als Kolonialist und Jäger, die Schwarzen Männer sind Kriegs-rebellen und Francis trägt das Kostüm eines Gorillas. Man sagt ihm, wie demütigend es ist, aber Francis findet es witzig. Einige Szenen zuvor hatte sich ein Schlüsselmoment daraus ergeben, dass Francis Reinhold deutlich machte, dass er nicht sein Affe sei. Jetzt war er es doch. Der Rassismus, den Reinhold als Werkzeug zur Unterdrückung nutzte, nutzt er jetzt, um allen seine Überlegenheit deutlich zu machen. Allen im Club und uns, dem Publikum. Nur Francis sieht es nicht, denn wie gesagt, die Liebe macht ihn blind.
GUTSEIN
Alles, was Francis will, ist gut sein. Alles, was das Publikum will, ist, dass er gut ist. Bei jedem Schritt in die falsche Richtung stirbt ein Stück unseres Glaubens, aber die Hoffnung bleibt stark, doch worauf beruht unsere Hoffnung eigentlich?
Jede Hand, die ihm dabei helfen will gut zu sein, lehnt er ab. Er entscheidet sich immer wieder für die Hand des Bösen. Genau das ist der springenden Punkt. Er entscheidet sich. Anders als die meisten in seiner Situation, hat er eine Wahl, Optionen. Er hat Menschen in seinem Leben, die für ihn da sind, ihn beschützen, den Weg weisen wollen. Er entscheidet sich aber immer gegen sie. Nicht, obwohl er ein guter Mensch ist, sondern weil er ein schlechter ist. Für das Publikum scheint diese Pille schwer zu schlucken. Doch warum? Es wirkt simpel. Sei gut, tu Gutes. Aber Francis fällt das schwer und wir akzeptieren es. Warum wollen wir so sehr an das Gute in diesem Menschen glauben, der uns nie bewiesen hat, dass er tatsächlich gut ist? Wie viele böse Dinge darf ein Mensch tun, bis er als ein schlechter Mensch gilt?
Selbst, wenn man die verstrickte Psychologie in seiner Beziehung zu Reinhold ansatzweise verstanden hat, kann man oft nicht nachvollziehen, warum Francis handelt wie er handelt. Aber vielleicht sollen wir das auch gar nicht. Was ist schon gut oder böse?
„So einfach ist das Leben nicht. Francis, du willst etwas sein, das du nicht sein kannst. Das ist die Fehlschaltung in dir. You want to be good in a world that is böse.“ (Reinhold, 00:41:23)
Gut und Böse werden einander wie natürliche Feinde gegenübergestellt, als könne man nur eines davon sein. Aber Gut sein gibt es nicht. Böse sein auch nicht. Menschen sind beides und dabei beidem überlegen. Der Protagonist jagt dem Gutsein hinterher, etwas, das in seiner Welt nicht existiert. Daher stammt die Ambivalenz in den Dingen, die er sagt, zu den Dingen, die er tut. Daher auch der Zwiespalt in ihm, den das Publikum für ihn weiterträgt. Wir zerreißen uns den Kopf in der Sorge um ihn, diesen Menschen, der gut ist und böses tut, anstatt zu akzeptieren, dass Gut wie Böse wenig mehr als Ideen sind, die wir zwanghaft in die Realität umsetzen wollen. Schließlich sind Gut und Böse einfacher zu verstehen als die überdimensionalen, ungreifbaren, moralischen Paradoxe, die wir tatsächlich leben.
Ob er nicht gut sein kann oder nicht gut sein will, sei dahingestellt. Die grundlose Überzeu-gung, dass das Gute tief in seinem Herzen steckt, sagt mehr über uns, das Publikum, aus, als über die Figuren in dieser Geschichte.